Nachfrage im Risikozeitraum

Der Risikozeitraum ist eine wichtige Größe, die in der Bestandsplanung unter stochastischen Bedingungen bei der Bestimmung des Sicherheitsbestands berücksichtigt werden muß. Es handelt sich um die Zeitspanne, die vergeht, bis eine getroffene Entscheidung zur Wiederauffüllung des Lagerbestands wirksam wird. Beispiel: Wenn ein Lieferant nach einer Lieferzeit von exakt 14 Tagen liefert, dann muß der Zeitpunkt der Bestellung - in der $(s,q)$-Politik gesteuert durch die Höhe des Bestellpunkts - so festgelegt werden, daß der dann verfügbare Lagerbestand noch ausreicht, um die Nachfrage in der Zeitspanne bis zum Eintreffen der bestellten Menge zu decken. Hier ist der Risikozeitraum also gleich der Wiederbeschaffungszeit und beträgt folglich 14 Tage.

In einer Lagerhaltungspolitik setzt sich der Risikozeitraum zusammen aus

  • dem Überwachungsintervall und

  • der Wiederbeschaffungszeit.

Innerhalb dieser Zeitspanne, die üblicherweise mehrere Perioden umfaßt, tritt stochastische Nachfrage auf, deren Wahrscheinlichkeitsverteilung für die Festlegung der Parameter einer Lagerpolitik bekannt sein muß.

Die Wiederbeschaffungszeit ist die Zeitspanne, die zwischen dem Zeitpunkt der Auslösung einer Bestellung für ein Produkt beim Lieferanten und dem Zeitpunkt liegt, an dem die bestellte Menge des Produkts im Lager zur Deckung der Nachfrage zur Verfügung steht.

Das Überwachungsintervall ist der Abstand zwischen zwei aufeinanderfolgenden Überprüfungen des disponiblen Lagerbestands. Das Überwachungsintervall verlängert also den Risikozeitraum. Selbst dann, wenn die Wiederbeschaffungszeit Null beträgt, zwingt ein Überwachungsintervall zur Bevorratung von Sicherheitsbestand.

In einer Lagerhaltungspolitik mit diskreter Zeitachse geht man davon aus, daß die Nachfragemengen $D$ je Periode für ein betrachtetes Produkt Zufallsvariablen sind, die einer im Zeitablauf gleichbleibenden und periodenweise unabhängigen Wahrscheinlichkeitsverteilung (z.B. Normalverteilung, Gamma-Verteilung, diskrete empirische Verteilung) folgen. Die Wahrscheinlichkeitsverteilung bzw. ihre Parameter werden aus Aufzeichnungen über die Nachfrageentwicklung in der Vergangenheit geschätzt. Die empirische Analyse der Nachfrageentwicklung ist eine in der Praxis oft vernachlässigte, aber unverzichtbare Voraussetzung für die Anwendung einer Lagerhaltungspolitik.

Die Periodennachfragemengen werden, falls sie durch kontinuierliche Zufallsvariablen modelliert werden, durch ihre Dichtefunktion $f_{D}(d)$ und ihre Verteilungsfunktion $F_{D}(d)=P\{D\le d\}$ beschrieben. Im diskreten Fall sind Wahrscheinlichkeiten $P\{D=d, d=d_{\min },...,d_{\max }\}$ gegeben.

Auch die Wiederbeschaffungszeit $L$ kann als Zufallsvariable modelliert werden, wobei man für die Praxis davon ausgehen kann, daß $L$ durch eine diskrete Wahrscheinlichkeitsverteilung $P\{L=\ell, \ell=\ell_{\min},\ldots,\ell_{\max} \}$ beschrieben wird. Diese Diskretisierung der Zeitachse stimmt mit dem normalen Ablauf  logistischer Prozesse in der betrieblichen Praxis überein. Wird z.B. eine Bestellung bei einem Lieferanten ausgelöst, dann wird die bestellte Produktmenge selbst unter günstigen Bedingungen (z.B. bei telefonischer Bestellannahme, Lieferfähigkeit des Lieferanten und unverzüglicher Auftragsabwicklung, d.h. bei einer Wiederschaffungszeit $L=0$) i.d.R. erst zu Beginn des nächsten Tages angeliefert.

Wenn der Lieferant einen Logistik-Dienstleister einsetzt, dann kommt es darüberhinaus zu weiteren Verzögerungen. Der protokollierte Ablauf der Bearbeitung einer Bestellung, die bei der Lagerbestandsüberwachung gemäß einer $(r,S)$-Lagerhaltungspolitik an einem Montagabend ausgelöst wird, sieht dann z.B. so aus:

Montag, 20:01 Uhr Bestellendes Lager: Elektronischer Auftrag an den Logistik-Dienstleister
Dienstag, 12:55 Uhr Sendung wird beim Lieferanten abgeholt
Mittwoch, 10:05 Uhr Sendung wird im Lager des Logistik-Dienstleisters bearbeitet und für den Versand vorbereitet
Donnerstag: 03:50 Uhr Sendung trifft im Regionallager des Logistik-Dienstleisters ein und wird zur Zustellbasis des Logistik-Dienstleisters weitergeleitet
Donnerstag: 12:34 Uhr Bestellendes Lager: Sendung trifft ein und wird eingelagert
Freitag: 8:00 Uhr Bestellendes Lager: Bestellte Menge steht zur Erfüllung der Nachfrage zur Verfügung

Im beschriebenen Praxisfall war zum Zeitpunkt der Bestellung beim Lieferanten noch Lagerbestand vorhanden. Es bestand also Lieferfähigkeit (100%). Trotzdem kann das bestellende Lager erst ab Freitagmorgen die bestellte Menge zur Deckung der Nachfrage einsetzen. Die transportbedingte Komponente der Wiederbeschaffungszeit beträgt hier also vier Perioden. Wäre der Lieferant im betrachteten Beispiel nicht lieferfähig gewesen, dann wäre noch eine weitere Zeitspanne, die lagerbedingte Lieferzeit des Lieferanten, zur Wiederbeschaffungszeit aus der Sicht des bestellenden Lagers hinzugekommen.

Selbst bei großzügiger Auslegung kann man in einem derartigen, für die Praxis typischen Fall nicht von einer kontinuierlichen, z.B. exponentialverteilten, Wiederbeschaffungszeit ausgehen. Diese Annahme wird in vielen Veröffentlichungen getroffen, in denen mehr auf mathematische Eleganz statt auf praktische Anwendbarkeit geachtet wird.

Für einen gegebenen Wert $\ell$ der Wiederbeschaffungszeit ergibt sich die Nachfragemenge in der Wiederbeschaffungszeit, $Y$, als Summe der $\ell$ einzelnen Periodennachfragemengen. Falls ein Überwachungsintervall zu berücksichtigen ist, erhöht sich die Summe auf das $(\ell+r)$-Fache der Periodennachfragemenge. Die Wahrscheinlichkeitsverteilung dieser Summe muß in Abhängigkeit von der Verteilung der Periodennachfragemenge bestimmt werden. In der betrieblichen Praxis beobachtet man sehr unterschiedliche Nachfrageverteilungen.

Ist die Periodennachfragemenge $D$ mit dem Mittelwert $\mu_{D}$ und der Standardabweichung $\sigma_{D}$ normalverteilt, dann ist die Nachfragemenge in einer deterministischen Wiederbeschaffungszeit mit dem Mittelwert $\mu_{Y} = \mu_{D} \cdot \ell$ und der Standardabweichung $\sigma_{Y} = \sigma_{D}\cdot \sqrt{\ell}$ ebenfalls normalverteilt.

Ist die Periodennachfragemenge $D$ mit dem Skalenparameter $\alpha_{D}$ und dem Fomparameter $k_{D}$ gammaverteilt, dann ist die Nachfragemenge in einer deterministischen Wiederbeschaffungszeit mit dem Skalenparameter $\alpha_{Y} = \alpha_{D}$ und dem Formparameter $k_{Y} = k_{D}\cdot \ell$ ebenfalls gammaverteilt. Der Skalenparameter und der Formparameter können aus dem empirisch beobachteten Mittelwert und der Varianz geschätzt werden.

Bei Produkten mit sporadischem Bedarf kann der Nachfrageverlauf manchmal mit einer Poisson-Verteilung modelliert werden. In vielen praktischen Fällen kann man bei sporadischem Bedarf aber keine theoretische Wahrscheinlichkeitsverteilung erkennen und muß stattdessen auf die empirisch beobachtete Häufigkeitsverteilung zurückgreifen. Ist die Periodennachfragemenge zwar regelmäßig (stationär), aber weist sie große Schwankungen auf, dann bietet die Gamma-Verteilung eine flexible Möglichkeit zur Modellierung der Periodennachfrage.

Ist die Wiederbeschaffungszeit stochastisch, dann ist die Nachfragemenge in der Wiederbeschaffungszeit die Summe einer zufälligen Anzahl von Zufallsvariablen. In diesem Fall ist die Nachfragemenge im Risikozeitraum in vielen Fällen nicht mehr normalverteilt. Die resultierende Wahrscheinlichkeitsverteilung kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. 

Das nachfolgende Bild zeigt die simulierte Verteilung der Nachfragemenge im Risikozeitraum, die sich ergibt, wenn die Periodennachfrage mit $\mu=10$ und $\sigma=3$ normalverteilt und der Risikozeitraum wie folgt asymmetrisch verteilt ist:

$\ell$ $P\{L=\ell\}$
1 0.60
2 0.15
3 0.10
4 0.10
5 0.05

A

Solche asymmetrischen Verteilungen des Risikozeitraums sind die Regel, wenn der Lieferant ab Lager liefert und es hin und wieder zu Lieferunfähigkeit kommt, weil der Lagerbestand verbraucht ist, oder wenn während des Transports durch einen Logistik-Dienstleister ungeplante Verzögerungen auftreten. In beiden Fällen ist davon auszugehen, daß bestenfalls - wenn nichts Unvorhergesehens passiert - sehr oft der Risikozeitraums kurz ist und daß er sich durch zufällige Verzögerungen höchstens verlängert, nicht aber verkürzt.

Nimmt man an, daß der Risikozeitraum die Ausprägungen 2 und 6 mit gleichen Wahrscheinlichkeiten (0.5) haben kann, dann erhält bei normalverteilter Nachfrage mit dem Mittelwert 10 und der Standard-Abweichung 3 folgende Wahrscheinlichkeitsverteilung der Nachfragemenge in der Wiederbeschaffungszeit (Simulationsergebnisse):

A

Es ist offensichtlich, daß die Anwendung der Normalverteilung zur Berechnung des Sicherheitsbestands bei dieser Form der Nachfrageverteilung zu erheblichen Fehlern führen kann. Die numerischen Werte, die in der obigen Graphik abgebildet sind, zeigt die folgende Tabelle:

Y # Beobachtungen rel. Häufigkeit
0.0 0 0.0000
5.0 0 0.0000
10.0 2 0.0020
15.0 61 0.0610
20.0 162 0.1620
25.0 217 0.2170
30.0 57 0.0570
35.0 7 0.0070
40.0 2 0.0020
45.0 14 0.0140
50.0 40 0.0400
55.0 69 0.0690
60.0 127 0.1270
65.0 125 0.1250
70.0 79 0.0790
75.0 27 0.0270
80.0 8 0.0080
85.0 3 0.0030
90.0 0 0.0000
95.0 0 0.0000
$>$ 95.0 0 0.0000

Eine derartige mehrgipfelige Nachfrageverteilung kann mit der Normalverteilung nicht ausreichend genau abgebildet werden. Hier wird man bei der Berechnung der Parameter einer Lagerhaltungspolitik auf die Möglichkeiten zur Analyse von empirisch diskreten Wahrscheinlichkeitsverteilungen zurückgreifen müssen. Geschlossene analytische Formeln stehen dabei nicht zur Verfügung.

Die Nachfrage im Risikozeitraum ist von grundlegender Bedeutung für die Bestimmung des Sicherheitsbestands. Die konkrete Form der Berechnungen hängt von der Art der eingesetzten Lagerpolitik ab.

In einer $(s,q)$-Politik ermittelt man zunächst den zulässigen Anteil der Fehlmenge an der gesamten Nachfrage in einem Bestellzyklus. Ist z.B. die Nachfrage im Bestellzyklus 500 (dies ist in der $(s,q)$-Politik die Bestellmenge $q$), dann darf die erwartete Fehlmenge pro Zyklus bei einem $\beta$-Servicegrad von 95% nicht größer als $500\cdot 0.05= 25$ sein.

Die weiteren Berechnungen hängen von der Form der Wahrscheinlichkeitsverteilung der Nachfragemenge im Risikozeitraum ab. Angenommen, die Wiederbeschaffungszeit beträgt 2 Perioden und die Nachfragemenge pro Periode ist mit dem Mittelwert $\mu=100$ und der Standard-Abweichung $\sigma=30$ normalverteilt. Dann gilt für die (ebenfalls normalverteilte) Nachfragemenge im Risikozeitraum, $Y$: $\mu_Y=200$ und $\sigma_Y=\sqrt{2 \cdot 900} = 42.42$.  Um den angestrebten $\beta$-Servicegrad zu errreichen, beträgt dann (unter Berücksichtigung des bei diskreter Zeitachse auftretenden Defizits, siehe Tempelmeier(2020)) der Sicherheitsbestand $-5.60$ und der Bestellpunkt ist $s=248.90$.

Ist die Standardabweichung dagegen höher, z.B. $70$, dann kann die Normalverteilung nicht mehr verwendet werden. Denn bei einer Normalverteilung mit $\mu_Y=200$ und $\sigma_Y = \sqrt{ 2 \cdot 4900} =98.99$ können auch negative Werte der Variablen auftreten. Bei Annahme dieser Verteilung würde der Bestellpunkt $s=233.46$ betragen und der benötigte Sicherheitsbestand würde zu niedrig angesetzt und der angestrebte Servicegrad nicht erreicht. Greift man stattdessen auf die Gamma-Verteilung zurück, dann erhält man unter sonst gleichen Annahmen den Bestellpunkt $s=336.36$ und einen Sicherheitsbestand in Höhe von $61.86$.

Siehe auch ...

Literatur

Tempelmeier, H. (2020). Analytics im Bestandsmanagement. 7. Aufl., Norderstedt: Books on Demand.
Günther, H.-O. und Tempelmeier, H. (2020). Supply Chain Analytics - Operations Management und Logistik. 13. Aufl., Norderstedt: Books on Demand.